Richtfest des AEG-Werks für Elektrowerkzeuge am 8. Oktober 1962. Foto: Privat.
Ein bedeutender Abschnitt in der Industrieentwicklung der Stadt – 60 Jahre AEG in Winnenden
Einleitung
Am 24. September 1963 erfolgte die Eintragung der AEG-Fabrik für Elektrowerkzeuge in das städtische Gewerberegister und trat zum 1. Oktober in Kraft. Daran will die vorliegende Ausstellung im Virtuellen Stadtmuseum erinnern. Schwerpunktmäßig befasst sie sich mit der Vorgeschichte der AEG in Winnenden. Ein Ausblick auf Meilensteine in der Entwicklung des Standorts seit Beginn der Produktion rundet die Darstellung ab.
Das Thema Industrieansiedlung im Winnender Gemeinderat
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das Thema Industrieansiedlung bei Gemeinderatssitzungen immer wieder auf der Tagesordnung. So auch am 16. März 1960. Bürgermeister Hermann Schwab berichtete über den aktuellen Stand. Dabei gab er die Zahl der in Winnenden zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte mit rund 4.400 an. Arbeitsplätze waren jedoch nur knapp 3.000 vorhanden. Diese Diskrepanz hatte zur Folge, dass viele Menschen auswärts arbeiten mussten – ein Zustand, der „auf die Dauer gesehen nicht gesund“ sei. Zur Verbesserung des Steueraufkommens erachtete Schwab es für notwendig, gleichermaßen das heimische Gewerbe zu fördern und neue Betriebe nach Winnenden zu bringen. So werde die Stadt in die Lage versetzt, „ihren Aufgaben gerecht zu werden“. Am Ende einer ausführlichen Aussprache wurden die „seitherigen Verhandlungen der Verwaltung in der Frage der Industrieansiedlung“ einstimmig „gutgeheissen“ und weitere Maßnahmen beschlossen.
Die Anfrage der AEG
Am 28. Juni 1960 teilte Bürgermeister Schwab dem Gemeinderat in nichtöffentlicher Sitzung mit, „dass die AEG bei ihm wegen einer evtl. Ansiedlung eines Zweigwerkes mit einer Endkapazität von 2000 Arbeitern angefragt habe“. 1883 von Emil Rathenau in Berlin gegründet, hatte das Unternehmen sich zu einem bedeutenden Elektrokonzern entwickelt. Die Verhältnisse des Werks für Elektrowerkzeuge im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt waren inzwischen so beengt, dass AEG in der näheren Umgebung der Landeshauptstadt Gelände für eine neue Fabrik suchte. Hermann Schwab gab zu bedenken, „man müsse sich, […], im Hinblick auf den Arbeitsmarkt die Frage der Ansiedlung eines solchen Betriebs wohl überlegen, aber auch die Frage, was die Bevölkerung sagen würde, wenn man eine solche Chance für Industriegewinnung auslasse“. Nach eingehender Diskussion beauftragte ihn das Gremium, der Firma ein entsprechendes Angebot zu unterbreiten.
Phase der Sondierungen und des Grundstückserwerbs
Drei Wochen später, am 19. Juli 1960, legte der Gemeinderat den finanziellen Rahmen fest, mit dem der Bürgermeister den Verantwortlichen der AEG beim Grundstückserwerb gegenübertreten konnte. Die Verträge diesbezüglich wurden abgeschlossen in der Zeit vom 11. August 1960 bis zum 23. Januar 1961. Über sechs Hektar Fläche kaufte das Unternehmen von der Stadt und von anderen Eigentümern. „Zum Zustandekommen der Verträge waren insgesamt 126 Verhandlungen zu jeder Tages- und teilweise auch Nachtzeit erforderlich“, heißt es im Gemeinderatsprotokoll. Am 7. Februar 1961 fasste der Gemeinderat dann, wiederum nichtöffentlich, den Beschluss, die „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Stuttgart-Bad Cannstatt“ in Winnenden anzusiedeln. Bis die Lokalpresse über die Details der erfolgreichen städtischen Bemühungen um Industriegewinnung informierte, dauerte es noch mehrere Monate.
Bauphase
Für die Niederlassung von Betrieben war Gelände im Gewand „Wette“ vorgesehen. Hier, zwischen Bundesstraße 14 und Bahnlinie, sollte das neue AEG-Werk errichtet werden. Den Bauarbeiten voraus ging die Erschließung des Areals. Angepasst werden musste unter anderem die Kanalisation. In ihrer Ausgabe vom 18. November 1961 verkündete die Winnender Zeitung, dass „die von der Stadt Winnenden entlang dieses Baugeländes angelegte Max-Eyth-Straße gestern fertig geworden“ ist. Die Eröffnung der Fabrik-Baustelle setzte sie „in der kommenden Woche“ an. Rund 200 Arbeiter, unter ihnen zahlreiche Italiener, hoben zunächst Erde aus, um das Fundament zu schaffen. Untergebracht waren die Männer in Baracken. Zu ihrer Verköstigung gab es eine Baukantine.
Trotz schlechten Wetters in den ersten Monaten schritten die Arbeiten zügig voran. Am 8. Oktober 1962 wurde Richtfest gefeiert. Auf der Baustelle fand in Gegenwart von etwa 400 Gästen – außer den Arbeitern werden in der Presse insbesondere Vertreter der Baufirmen, Direktoren der AEG sowie Landes- und Kommunalpolitiker erwähnt – der Richtspruch statt. Anschließend formierten die Teilnehmenden sich zu einem Festzug. Mit der Stadtkapelle an der Spitze marschierten sie durch die Marktstraße zur Stadthalle, die heute nach Hermann Schwab benannt ist. Dort wurde der Richtschmaus abgehalten. Walter Meyer, der kaufmännische Leiter der künftigen Fabrik, bedankte sich in seiner Ansprache für die gute Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung. Die Winnender Zeitung kommentierte am 10. Oktober, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Richtfest gehandelt habe, „sondern um einen bedeutenden Abschnitt in der Industrieentwicklung der Stadt Winnenden“.
Bei einer Bürgerversammlung am 26. Oktober 1962 fasste Bürgermeister Hermann Schwab nochmals zusammen, welche Überlegungen Verwaltung und Gemeinderat bei der Ansiedlung der AEG geleitet hatten: „Wir waren uns bewußt, was es heißt, in einer Zeit der Hochkonjunktur und des steigenden Arbeitskräftemangels weitere 1000 Arbeitsplätze zu schaffen. Aber wer wollte die Verantwortung dafür übernehmen, zu dem Angebot einer Firma wie der AEG nein zu sagen und damit sicher eine Industrie-Neuansiedlung auf lange Zeit ad acta zu legen. Bei der aufgezeigten Bevölkerungsentwicklung und angesichts der dauernden Zunahme des Pendlerstromes konnte nicht anders gehandelt werden.“ Überdies betrachtete Schwab die Industriegewinnung im Hinblick auf die städtischen Aufgaben als „eine zwingende Notwendigkeit“. Ebenfalls ein wichtiges Thema bei der Bürgerversammlung war das begonnene Siedlungsprojekt im Schelmenholz.
Werksumzug nach Winnenden
Im Sommer 1963 zog das AEG-Werk für Elektrowerkzeuge abteilungsweise von Bad Cannstatt nach Winnenden um. Die Mitarbeitenden fanden ein modernes Fabrikensemble vor, bestehend aus Werkhalle, Gießerei, Heizhaus, Transformatorengebäude, Bürogebäude und Kantine. Angefertigt werden sollte hier unter anderem ein neu entwickeltes Universal-Elektrogerät für den Haushalt, das am 24. August in der örtlichen Presse vorgestellt wurde. Nicht allen am bisherigen Standort Beschäftigten war es möglich, nach Winnenden mitzukommen. Aus diesem Grund warb die AEG in der Winnender Zeitung intensiv um Fach- und Hilfskräfte. Ebenso schaltete sie regelmäßig Wohnungsinserate.
Errichtung des Stadtbezirks Schelmenholz
Fast zeitgleich mit der AEG-Niederlassung, bei der es sich um die 27. Fabrik des Konzerns auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und Westberlins handelte, entstand der Stadtbezirk Schelmenholz. Am 13. Mai 1963 fand anlässlich des ersten Spatenstichs eine Feierstunde statt, an der zahlreiche Vertreter von Stadt, Landkreis, Bauträgern und Kreditinstituten teilnahmen. Ende August standen schon 40 Wohnungen im Rohbau. 1964 wurden die ersten Häuser bezogen.
Ausblick
Kurz nach dem offiziellen Tag der Eröffnung passierte auf dem AEG-Werksgelände ein Unfall, bei dem sich der 67-jährige Malermeister Max Müller aus Schwaikheim tödliche Verletzungen zuzog. Ein schlechtes Omen für die Produktion war damit glücklicherweise nicht verbunden. Bis weit in die 1970er-Jahre hinein florierte die Fabrik für Elektrowerkzeuge. So lieferte sie Bohrhämmer für den Bau des World Trade Centers in New York. 1970 wurde der Standort Winnenden sogar vergrößert.
Faktoren wie eine zurückgehende Nachfrage am Markt führten dazu, dass die AEG 1982 einen Vergleichsantrag stellen musste. Für das Winnender Werk hatte dies mehrere Eigentümerwechsel zur Folge. 1985 wurde es zunächst von der Daimler-Benz AG übernommen, die es sechs Jahre später an den schwedischen Industriekonzern Atlas Copco verkaufte. 2005 erwarb die chinesische Unternehmensgruppe Techtronic Industries (TTI) den Standort. 2010 hätte ihn beinahe die Schließung ereilt. Letztendlich wurde die Fertigung nach Tschechien verlagert. Nur die Verwaltung blieb in Winnenden.
Am 20. November 2011 starb der ehemalige kaufmännische Direktor der Fabrik für Elektrowerkzeuge, Walter Meyer, im Alter von 86 Jahren. In ihrem Nachruf auf ihn schrieb die Winnender Zeitung: „In der Stadt wird er vielen Menschen als der Mann in Erinnerung bleiben, der 1963 AEG nach Winnenden gebracht hat.“
Michaela Couzinet-Weber