Thalheimer, Bertha
BiographieBertha Thalheimer war eine kommunistische Politikerin jüdischer Konfession. Einen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie in Winnenden. Von 1892 bis 1899 lebte sie mit ihrer Familie in der Turmstraße 3. Den Anstoß, sie im Virtuellen Stadtmuseum zu präsentieren, gab die Teilnahme von Stadtarchivarin Michaela Couzinet-Weber an einem Schreibmarathon der Kulturregion Stuttgart auf den Spuren jüdischen Lebens. Am 30. Januar 2024 trafen sich in der Geschäftsstelle der Kulturregion rund 25 Interessierte, um Beiträge über jüdische Mitbürger, Orte und Ereignisse im Großraum Stuttgart zu erstellen und auf der Internetseite www.jewish-places.de zugänglich zu machen. Dieses Portal wird von der Stiftung Jüdisches Museum Berlin betrieben. Es zielt darauf ab, jüdisches Leben in der Mitte der Gesellschaft zu verorten. Den Beitrag über Bertha Thalheimers Wohnung in Winnenden finden Sie hier: https://www.jewish-places.de/de/DE-MUS-975919Z/facility/42f930a6-8dcb-4612-a26c-f4151c6a8093
Am 17. März 1883 kam Bertha Thalheimer als ältestes von drei überlebenden Kindern des Handelsmanns Moritz Thalheimer und seiner Ehefrau Karoline, geborene Thalheimer, in Affaltrach im württembergischen Oberamt Weinsberg zur Welt. Zwei Geschwister verstarben bereits im Säuglingsalter. 1892 übersiedelte die Familie nach Winnenden. Am 12. Mai machte Moritz Thalheimer im Volks- und Anzeigeblatt sein Geschäft bekannt: „Wir werden den seither betriebenen Viehhandel in unveränderter Weise weiter führen und sicheren solide Bedienung zu. Zugleich empfehlen wir unser Lager in Bettbarchenten, Drells, Bettfedern von den billigsten bis zu den feinsten Qualitäten, sowie fertige Betten.“ Einen Tag später, am 13. Mai, erfolgte die Anmeldung bei der Stadt Winnenden. Im „Verzeichniß neu anziehender Personen“ ist als Wohnadresse „Geometer Schüle“ in der Turmstraße 3 eingetragen.
Im Bundesarchiv (Bestand R 3003/4566) hat sich ein von Bertha Thalheimer verfasster Lebenslauf erhalten, der vom 11. Januar 1917 datiert. Darin ging sie auch auf die Zeit in Winnenden ein. Grund für den Umzug ihres Vaters dorthin war demnach „vor allem, uns Kindern eine gute Schulbildung zu geben. In Affaltrach war dies unmöglich, da es nur konfessionelle Volksschulen gab. Mein Vater hatte wohl nur die Volksschule besucht, hatte sich aber aus innerem Drange eine gute Allgemeinbildung selbständig angeeignet. Diesen mühsamen Weg der Selbstbildung wollte er uns ersparen.“
In Winnenden besuchte Bertha Thalheimer zunächst ein Jahr lang die Volksschule und ging dann von 1893 bis 1897 auf die Latein- und Realschule für Knaben in der Schloßstraße 14. Über weitere, hier erworbene Kenntnisse schrieb sie: „Jüdischen Religionsunterricht bekamen wir Kinder privat durch einen Lehrer, der zu diesem Zwecke jeden Sonntag zu uns ins Haus kam.“ Nach der Latein- und Realschule erhielt sie noch bis zum Alter von 16 Jahren Privatunterricht in Literatur und Sprachen. Ebenso erlernte sie das Klavierspiel.
Ein zweites Motiv für den Weggang Moritz Thalheimers aus Affaltrach ist in seiner Hinneigung zur Arbeiterbewegung zu suchen, die in Stuttgart schon eine starke Stellung innehatte. Dies war mit darauf zurückzuführen, dass das von Reichskanzler Otto von Bismarck 1878 initiierte Sozialistengesetz in Württemberg weniger streng gehandhabt worden war als insbesondere in Preußen. Bertha Thalheimer äußerte in ihrem Lebenslauf: „Mein Vater hatte sich früh zum Demokraten und bald zum Sozialdemokraten entwickelt. Ich glaube, daß er zu damaliger Zeit außer dem Rabbiner Stern der einzige Israelit war, der sich zum Sozialismus bekannte. Zu diesem Bekenntnis in diesem Milieu gehörte wirklich innere Überzeugung und Idealismus.“ Im Alltag blieb Moritz Thalheimer Geschäftsmann. Sein „Hausierhandel mit Vieh und Betten“ ist im städtischen Gewerbesteuerkataster für 1893 zum ersten Mal verzeichnet. Daneben betätigte er sich als Vorsitzender im neu gegründeten Winnender SPD-Ortsverein, der aber laut Bertha „sehr wenige Mitglieder zählte“.
1899 zog die Familie erneut um. Zielort diesmal war Cannstatt, seit 1905 ein Stadtteil von Stuttgart. Hier fanden die Thalheimers bald Anschluss an den Kreis um Clara Zetkin, die zusammen mit Rosa Luxemburg dem linken Flügel der Sozialdemokratie angehörte. Bei der Wahl zur württembergischen Kammer der Abgeordneten im Jahr 1900 kandidierte Moritz Thalheimer für die SPD. Im Winnender Volks- und Anzeigeblatt vom 4. Dezember ist ein Wahlaufruf von ihm abgedruckt. Seine Tochter Bertha ging 1905 nach Berlin und besuchte an der Universität als Gasthörerin Vorlesungen in Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie. Offiziell zum Hochschulstudium zugelassen wurden Frauen in Preußen allerdings erst 1908. In Berlin trat Bertha zudem der SPD bei und begann für die Parteipresse zu schreiben. Die jüdische Gemeinde verließ sie formell.
Während des Ersten Weltkriegs wurde sie vom Reichsgericht in Leipzig wegen Aufforderung zum Hochverrat durch Verbreitung von Schriften zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Entlassung war sie Anfang 1919 Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). 1920 heiratete sie in Stuttgart Karl Wilhelm Schöttle. Im gleichen Jahr wurden die Zwillinge Thomas und Ulrich geboren.
Die diskriminierende Politik der Nationalsozialisten traf Bertha Thalheimer als Jüdin und Kommunistin doppelt. 1933 erfolgte die Scheidung von ihrem Mann. Durch den Aufbau eines Kaffee-Handels gelang es ihr zunächst einigermaßen, die Kinder und sich selbst zu ernähren. An das befreundete Ehepaar Käte und Hermann Duncker schrieb sie im November 1946: „Schließlich ging ich während des Krieges in eine Fabrik. Im Januar 44 (am 11.1.) kam ich in das KZ-Lager Theresienstadt. Nur einem glücklichen Zufall war es zu danken, daß ich dem Vernichtungslager entging.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Bertha Thalheimer nach Stuttgart zurück, wo sie noch bis zu ihrem Tod am 23. April 1959 lebte. Sogleich begann sie sich auch wieder politisch zu betätigen. Einem kurzen Intermezzo bei der KPD folgte der Beitritt zur Gruppe Arbeiterpolitik, für deren Zeitschrift sie presserechtlich die Verantwortung übernahm. Keinen Erfolg hatten ihre Bemühungen um eine Rückkehrgenehmigung für ihren Bruder aus dem Exil in Kuba nach Deutschland. Eine enge Beziehung entwickelte sich zu ihrer 1947 geborenen Enkeltochter Eva Schwanitz, die 1999 den Kunstsalon Winnenden gründete und bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 2011 Kunstlehrerin am Georg-Büchner-Gymnasium war.