Hölzerne Fluchtkiste aus dem Besitz der Familie Scherbaum im Eingangsbereich des Stadtarchivs Winnenden. Foto: Michaela Couzinet-Weber.
Von Graslitz nach Winnenden – Die Geschichte einer Fluchtkiste
Zwischen 1945 und 1950 verloren etwa 12 bis 14 Millionen Deutsche aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus deutschen Siedlungsgebieten in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa ihre Heimat. Flucht und Vertreibung waren eine Folge der im Zweiten Weltkrieg kulminierenden nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In den letzten Kriegsmonaten flüchteten Millionen Menschen vor der sowjetischen Roten Armee in Richtung Westen. Die zwangsweise Umsiedlung großer deutscher Bevölkerungsteile wurde dann von den drei Hauptsiegermächten des Krieges – USA, UdSSR und Großbritannien – im Potsdamer Protokoll vom 2. August 1945 festgelegt. Laut Paragraph XIII sollte die Überführung „in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen“.
Diese Vorgabe wurde nicht eingehalten. Ebenso wenig gelang eine gleichmäßige Verteilung der Vertriebenen und Flüchtlinge auf die alliierten Besatzungszonen in Deutschland. So verweigerte Frankreich bis in die 1950er-Jahre hinein den Zuzug in das von ihm besetzte Gebiet. Entsprechend mehr Menschen kamen in die amerikanische Zone, zu der das 1945 von der US-Militärregierung gegründete Land Württemberg-Baden gehörte. Dort wurden 500.000 „offizielle“ Vertriebene erwartet. 1949 betrug ihre tatsächliche Anzahl aber bereits rund 750.000. In den Gemeinden des damaligen Landkreises Waiblingen wurden bis 1947 circa 30.000 Menschen untergebracht. Die Bevölkerungszahl Winnendens stieg dadurch stark an. Während die Stadt 1939 noch 5.783 Einwohner gezählt hatte, waren es zum 1. Dezember 1947 schon 8.511.
Unter den Neuankömmlingen befand sich auch die Familie von Irmgard Keppler (geborene Scherbaum) aus Graslitz im Sudetenland. Das wenige Gepäck, das sie auf dem Weg nach Winnenden mit sich führen konnte, war in extra angefertigten Holzkisten verstaut. Eine dieser Fluchtkisten ist in gutem Zustand erhalten geblieben. Die Übergabe der Kiste an das Stadtarchiv wurde vermittelt durch Diethard Fohr von der Initiative Stadtmuseum im Historischen Verein Winnenden.
Der nachfolgende, leicht redigierte Text stammt aus der Feder von Herrn Fohr. Er schildert die Vertreibung der Familie Scherbaum aus der Perspektive der Fluchtkiste:
Nach fast 80 Jahren bin ich nun im Stadtarchiv Winnenden angekommen, damit hier meine Vergangenheit dokumentiert und für zukünftige Generationen überliefert wird.
Ich will euch meine bewegte Geschichte erzählen:
Der Baum, aus dem meine Bretter gesägt wurden, ist bei Graslitz in Westböhmen gewachsen. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg mussten mehr als zwölf Millionen Deutsche ihre Heimat im Osten verlassen oder wurden vertrieben. Die Ankündigung kam kurzfristig. Schnell wurden viele Holzkisten hergestellt, um die 40 Kilogramm Gepäck pro Person für den Transport zu verstauen. Familie Scherbaum hatte zwei solcher Kisten für alles, was sie aus dem gesamten Hausstand mitnehmen durfte. Mit Tränen in den Augen verabschiedeten sich die Bewohner von ihrem Haus und luden mich auf ein Fuhrwerk, das uns alle in ein Lager brachte. Dort durchwühlten mich die Lagerwachen und nahmen sich alles, was sie brauchen konnten.
Nach einigen Tagen wurden wir in einen Güterzug verladen. Unten die ganzen Holzkisten, darüber Stroh und dann möglichst viele Personen pro Waggon. Ich war mit Familie Scherbaum und vielen anderen Graslitzern im Waggon Nr. 30, was zuvor mit Farbe auf mir vermerkt worden war. Der ganze Zug fasste etwa 1.000 Heimatvertriebene. Es war dunkel, nur durch einige Ritzen konnte man nach draußen schauen. Niemand wusste, wo die Reise hingehen würde. Immer wieder hielt der Zug im freien Gelände, und die Leute stiegen aus, um ihre Notdurft zu verrichteten. Es herrschte eine sehr gedrückte Stimmung im Waggon. Manche weinten. Wenn jemand starb, wurde er beim nächsten Halt ausgeladen und zurückgelassen. Die Ernährung war erbärmlich, alle hatten Hunger.
Nach Tagen unterwegs luden sie mich endlich im bayerischen Pfaffenhofen an der Ilm aus, und ein Lastwagen brachte mich, wie alle anderen Kisten und Menschen, in ein Lager. Einige Zeit verging, bis ich wieder auf einen LKW und dann in einen Zug verladen wurde. Schließlich kamen wir in Winnenden an. Was würde uns hier erwarten? War es das Ende der unfreiwilligen Reise?
Wir landeten in der Kochschule und blieben vorübergehend dort. Verzweifelt suchten der Bürgermeister und eine Kommission nach Unterkünften in den Häusern. In der Kelterstraße wurde man fündig und brachte uns dorthin. Jetzt wurde ich ganz ausgepackt und diente zuerst noch als Sitzgelegenheit und mangels Schränken auch als Stauraum. Vater Scherbaum fand, wie viele aus der Musikinstrumentenstadt Graslitz, Arbeit bei der Firma Kohlert – einem traditionsreichen Graslitzer Instrumentenbauer, der sein Geschäft in Winnenden fortsetzte. Mit Fleiß und Sparsamkeit konnte nach Jahren mit Hilfe der heutigen Baugenossenschaft Winnenden ein eigenes Häuschen gebaut werden. Ich führte lange Jahre ein Schattendasein auf dem Dachboden in der Adalbert-Stifter-Straße. Endlich wurde ich die schmale Bühnenstiege hinabgetragen und ins Stadtarchiv nach Birkmannsweiler gebracht.
Hier habe ich im Eingangsbereich, wo auch die Justitia-Figuren stehen, die früher den Marktbrunnen geziert haben, einen Platz gefunden. Im Virtuellen Stadtmuseum Winnenden können mich Besucher aus der ganzen Welt sehen und aus meiner Geschichte lernen. Denn jeder Krieg ist ein Krieg zu viel und bringt Leid und Zerstörung mit sich.
Michaela Couzinet-Weber, Diethard Fohr